Schreibschrift-Unterricht in der Grundschule revolutionieren: So geht’s (Klassen 1-3)
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Einleitung
Die Schreibschrift polarisiert wie kaum ein anderes Thema im Grundschulunterricht. Während sie in den meisten Lehrplänen fest verankert ist, stellen sich immer mehr Lehrkräfte die Frage: Ist sie überhaupt noch zeitgemäß? Und vor allem: Wie können wir im Sinne von individuellem Lernen mit der Schreibschrift umgehen?
Als Lehrerin habe ich über die Jahre hinweg sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Manche Kinder blühen regelrecht auf, wenn sie die Schreibschrift entdecken. Andere kämpfen wochenlang mit jedem einzelnen Strich und verlieren dabei die Freude am Schreiben. Diese Beobachtungen und meine Überzeugung, dass das Lernen den individuellen Bedürfnissen von Kindern entsprechen muss, haben mich dazu gebracht, meinen Umgang mit der Schreibschrift grundlegend zu überdenken. Dabei geht es nicht um klassische Differenzierung, sondern um offene Lernangebote und Autonomie für die Kinder.
Lehrplan versus Realität
Obwohl die Schreibschrift in den meisten Bundesländern noch immer im Lehrplan steht, ist die Diskussion um ihre Berechtigung längst entbrannt. Die Realität zeigt ein klares Bild: Kaum ein Erwachsener schreibt heute noch konsequent in Schreibschrift. Stattdessen entwickeln die meisten Menschen eine individuelle Mischform aus Druck- und Schreibschrift.
Gleichzeitig wird das händische Schreiben generell immer seltener. E-Mails, Messenger, digitale Notizen: unsere Kommunikation findet zunehmend über Tastaturen statt. Wäre es da nicht sogar sinnvoller, den Kindern das 10-Finger-System beizubringen statt wochenlang an Buchstabenschleifen zu feilen?

Bereiten wir unsere Schüler wirklich optimal auf ihr späteres Leben vor? Oder halten wir an Traditionen fest, die längst ihre praktische Relevanz verloren haben? Und welche Aspekte sprechen vielleicht dennoch für die Schreibschrift?
Die gängigen Ausgangsschriften im Überblick
In Deutschland werden hauptsächlich drei verschiedene Ausgangsschriften gelehrt. Die Wahl der Schrift ist von Bundesland und Schule und teils sogar von der Lehrkraft abhängig. So geben manche Bundesländer keine bestimmte Schrift vor, während es in einigen Ländern eine verbindliche Schreibschrift gibt.
Vereinfachte Ausgangsschrift (VA)
Die VA wurde in den 1970er Jahren entwickelt und ist heute in Deutschland am weitesten verbreitet.
Ihre Charakteristika:
- Einfachere Buchstabenformen im Vergleich zu LA
- Weniger Schleifen und Schnörkel
- Klare, gut lesbare Grundformen mit einige Ausnahmen (z, s)
- Einheitliche Buchstabenverbindungen
Lateinische Ausgangsschrift (LA)
Die LA ist die älteste der drei Ausgangsschriften und wird vor allem in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz unterrichtet. In diesen Bundesländern haben die Schulen die Wahl zwischen LA und VA. Auch an einigen deutschen Auslandsschulen ist mir die LA in den letzten Jahren noch begegnet.
Ihre Besonderheiten:
- Traditionelle, sehr detaillierte Buchstabenformen
- Mehr Schleifen und dekorative Elemente, besonders bei Großbuchstaben
- Höhere motorische Anforderungen
Schulausgangsschrift (SAS)
Die SAS wurde in der DDR entwickelt und wird heute hauptsächlich in den neuen Bundesländern, im Saarland und in Hamburg verwendet. Häufig haben Schulen jedoch auch die Wahl zwischen SAS und VA.
Ihre Merkmale:
- Steilere Schreibhaltung als VA und LA
- Einfachere Buchstabenformen im Vergleich zu LA
- Weniger Schleifen und Schnörkel
- Noch mehr Ähnlichkeit zur Druckschrift als VA (z.B. z)
Aus meiner langjährigen Unterrichtspraxis mit den verschiedenen Ausgangsschriften zeigt sich ein interessantes Bild: Die Lateinische Ausgangsschrift erweist sich nicht nur als die motorisch anspruchsvollste Variante, sondern auch aufgrund der vielen Schnörkel als die im internationalen Kontext am schlechtesten lesbare. Während sie durchaus ihren Wert als kulturelles Erbe haben mag, stellt sich die Frage nach ihrer praktischen Alltagstauglichkeit. Die charakteristischen Schleifen und Verzierungen tragen entgegen der oft gehörten Argumentation auch nicht zu einer effizienteren oder schnelleren Schreibweise bei.

Vereinfachte Ausgangsschrift und Schulausgangsschrift unterscheiden sich hingegen nur in wenigen Buchstabenformen und -verbindungen (zum Beispiel bei der Verbindung zum e) und sie stellen beide vereinfachte Ansätze dar.
Und hier stellt sich für mich die Frage: Kann man ein vermeintliches Kulturgut überhaupt vereinfachen, ohne dass dabei das Wesentliche verloren geht? Offenbar hat man erkannt, dass die ursprünglichen Formen zu schwierig waren und wollte die Schreibschrift durch Vereinfachungen irgendwie „rettbar“ machen. Doch selbst diese Vereinfachungen ändern nichts an der grundlegenden Tatsache: Für einen erheblichen Teil der Kinder bleibt die Schreibschrift eine bedeutende Herausforderung – unabhängig davon, welche Form gewählt wird.
Diese Erkenntnis führt mich zu der entscheidenden Frage: Wie können wir den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder gerecht werden?
Drei Typen von Kindern, drei verschiedene Wege
Jedes Kind ist verschieden und die Auseinandersetzung mit der Schreibschrift könnte nicht unterschiedlicher sein. Dennoch habe ich in der Vergangenheit drei grundsätzliche Herangehensweisen und Beziehungen mit der Schreibschrift beobachtet.

Schreibschrift als künstlerischer Ausdruck
Einige Kinder haben einen natürlichen Blick für Schönheit und Ästhetik. Für sie ist die Schreibschrift eine wunderbare Möglichkeit:
- Einen eigenen Schreibstil zu entwickeln
- Das Schreiben als künstlerische Tätigkeit zu erleben
- Stolz auf ihre handschriftlichen Ergebnisse zu sein
Diese Kinder arbeiten gerne in ihren Schreibschriftheften und wechseln oft freiwillig komplett zur Schreibschrift über. Bei ihnen sollten wir diese Begeisterung unbedingt fördern und ihnen Raum für weitere Entwicklung geben.
Gehorsam ohne Leidenschaft
Ein großer Teil der Kinder folgt einfach den Vorgaben, ohne eine besondere Beziehung zur Schreibschrift zu entwickeln. Sie kopieren formgetreu die Buchstaben, aber:
- Es bereitet ihnen keine besonderen Schwierigkeiten
- Sie empfinden aber auch keine besondere Freude dabei
- Die Schreibschrift wird mechanisch abgearbeitet
Für diese Kinder ist die intensive Beschäftigung mit der Schreibschrift oft Zeitverschwendung. Sie sollten die Möglichkeit haben, nach einer grundlegenden Einführung selbst zu entscheiden, ob sie weitermachen möchten.
Wenn das Schreiben zur Qual wird
Für manche Kinder ist die Schreibschrift eine echte Belastung. Sie haben bereits mit der Druckschrift alle Hände voll zu tun und die zusätzlichen Anforderungen führen zu:
- Ständiger Überforderung
- Frust und Demotivation
- Negativen Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl
- Abneigung gegen das Schreiben generell
Diese Kinder zwanghaft zur Schreibschrift zu führen, ist pädagogisch unverantwortlich. Das Risiko, dass sie eine dauerhafte Abneigung gegen das Schreiben entwickeln, ist viel zu groß.
Die Schreibschrift als Option
In meiner Klasse gehe ich mittlerweile ganz anders damit um. Statt sie als Pflicht zu präsentieren, stelle ich sie als interessante Option vor.
Ich beginne mit einer spielerischen Übung: Die ganze Klasse versucht, mit einem Wollfaden Wörter zu „schreiben“, ohne den Faden abzusetzen. Dabei geht es noch nicht um die formale Vermittlung bestimmter Grundformen oder Buchstaben, sondern nur um die grundlegende Idee der Schreibschrift – das Schreiben ohne Absetzen. Diese Methode verdeutlicht das Grundprinzip auf eine völlig entspannte Art und, solange der Faden nicht durchgeschnitten wird, gibt es kein Richtig oder Falsch.

Nach den ersten Schwungübungen lasse ich die Kinder reflektieren. Dabei finde ich heraus: Welche Kinder zeigen Interesse? Wer tut sich schwer? Mit Kindern, die Schwierigkeiten haben oder keinen richtigen Zugang finden, führe ich individuelle Gespräche und wir entscheiden gemeinsam, wie wir weitermachen. Diese Reflexionen und Gespräche sind entscheidend für den Unterricht in den nächsten Wochen.
Mit Kindern, bei denen wir uns gemeinsam gegen die Schreibschrift entschieden haben, überlege ich im Gespräch, mit welchem Bereich sie sich stattdessen beschäftigen wollen. Ich biete dazu verschiedene Hefte an und die Kinder entscheiden, ob sie zum Beispiel lieber lesen, knobeln oder vielleicht Geschichten schreiben möchten. Eine weitere tolle Alternative ist das Erlernen des 10-Finger-Systems. Diese Fähigkeit ist in der heutigen Zeit deutlich relevanter als eine perfekte Schreibschrift.
Diese beiden Hefte nutze ich zum Beispiel sehr gerne als alternatives Lernangebot: „Ich und meine Geschichten“ und “ABC-Lernlandschaft 1/2: Lesen” (Affiliate-Links)
Manche Kinder suchen sich stattdessen auch Aufgaben, die nicht an ein Heft gebunden sind, oder sie haben genug mit anderen Aufgaben zu tun, sodass sie keine zusätzliche Aufgabe oder kein zusätzliches Heft brauchen.
Wichtig dabei ist auch, transparent mit den Eltern zu kommunizieren. Ich erkläre ihnen, warum ich individuell vorgehe und welche Vorteile das für ihr Kind hat. Gleichzeitig konzentriere ich mich bei allen Kindern auf ihre Stärken – ich lobe die Kinder, die begeistert in Schreibschrift schreiben, genauso wie die, die ihre Energie in andere Bereiche stecken.
Einblick in meinen Unterricht
Für die Kinder, die sich für die Schreibschrift entscheiden, gestalte ich den Lehrgang individuell und selbstbestimmt. Ich arbeite am liebsten mit der Schulausgangsschrift, weil sie meiner Meinung nach eine schöne, schlichte Auseinandersetzung mit der Schreibschrift bietet und eine gute Grundlage für die Entwicklung einer eigenen Handschrift ist.
Die Schreibschrift-Lernwerkstatt
Für einige Wochen richte ich eine Lernwerkstatt im Klassenraum ein, in der die Kinder in ihrem eigenen Tempo arbeiten können. Diese enthält:
- Schwung-Übungen für den Anfang und zur Diagnostik
- Abschreib-Blätter mit jahreszeitlichen Wörtern und Sätzen oder eingebettet in Geschichten
- Rätsel wie Buchstabensalat

Erweiterte Freiarbeit
Zusätzlich erweitere ich den Freiarbeitsbereich mit motivierenden Aufgaben rund um die Schreibschrift:
- Lese-Legekarten zum Lesen von Schreibschrift
- Abschreibkarten
- Motorische Angebote, wie das Schreiben in Sand oder Ton
- Verschiedene Forscheraufträge

Tägliche Übungen
Für den Anfang integriere ich eine kurze tägliche Übung: In der ersten Woche spuren wir alle gemeinsam die Buchstaben nach. Dabei mache ich es an der Tafel vor. Ab der zweiten Woche arbeiten die Kinder selbstständig. Das Schöne daran: Sobald sie flüssige Sätze schreiben können, entscheiden die meisten Kinder von selbst, dass sie diese Übung nicht mehr brauchen.

Auch für die Lernwerkstatt gilt: Wer einen Buchstaben beherrscht, muss nicht alle Aufgaben zu diesem Buchstaben machen. Die Kinder spüren selbst, wann sie bereit für den nächsten Schritt sind. Diese Selbsteinschätzung zu entwickeln ist viel wertvoller als das sture Abarbeiten von Heftseiten oder Aufgaben.
Fazit: Mut zur Individualisierung
Die Schreibschrift muss kein Stressfaktor im Schulalltag sein. Wenn wir sie als das behandeln, was sie ist – eine von vielen Schreibformen – können wir allen Kindern gerecht werden:
- Kinder mit ästhetischem Empfinden dürfen ihre Leidenschaft für schöne Schrift ausleben.
- Pragmatische Kinder müssen sich nicht länger als nötig mit etwas beschäftigen, was sie nicht interessiert.
- Kinder mit motorischen Schwierigkeiten werden vor Überforderung geschützt.
Das Wichtigste ist und bleibt: Alle Kinder sollen Freude am Schreiben entwickeln und ihre Gedanken klar ausdrücken können. Ob sie das in Druckschrift, Schreibschrift oder einer individuellen Mischform tun, ist zweitrangig.
Hab den Mut, die Schreibschrift flexibler zu denken. Deine Schüler werden es dir danken und du wirst feststellen, dass der Unterricht entspannter und erfolgreicher wird, wenn du auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingehst.
Was sind deine Erfahrungen mit der Schreibschrift? Ich freue mich auf deine Gedanken und den Austausch in den Kommentaren oder per E-Mail.
Deine Tatiana
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